Freitag, 17. Dezember 2010

70 M - 84 i - 104 n - Wachstum! Wachstum! Wachstum!

Zumindest ein Vorteil von überfüllten Intercity-Expressos ist der bewusstseinserweiternde Perspektivenwechsel, der unsereiner ausgesetzt wird, wenn Sitzplätze von den Gesetzen der Diffusion verwehrt werden. Kein maxwellscher Dämon, sondern eiskalte Kalkulation. So liegen unsere Blicke nur noch, zusammengekauert auf dem durchnässten Boden, auf den unteren Körperhälften unserer Mitfahrer. Enttäuschenderweise eine recht langweilige Sache. Wo bleiben die schicksalshaften Begegnungen? Ein inselbegabter Schachmeister vielleicht, wie beim Zweig? Wann erfahre ich konstruierte Handlung in meinem Leben? Dieses Privileg scheint nur der Protagonisten-Bourgeoisie vorbehalten zu sein. Ich fordere: Noblesse Oblige, sonst Revolution! Bis dahin fürchte ich jedoch, meine Zeit müsse auf andere Art und Weise massakriert werden. Also schreibe ich einen Text über das, was zwischen Städten schnell herumfährt, Gratis-Getränken und exponentiellem Anstieg von reiner Verspätungszeit. Vielleicht gelingt der Bahn ja der Durchbruch, und sie erreicht die temporale Singularität, eine ewige Verspätung, Quantenbahn made by Schrödinger, Pünktlich und Verspätet zugleich! Großartig. Ich sollte bei Mappus anfragen, wie es mit Plänen diesbezüglich aussieht. Wer braucht denn bitte Kopfbahnhöfe bei diesem Innovationspotenzial? Aber zurück zum Expresso. Wie vielfältig doch die Zeitvertreibung geworden ist! Ob Schach-App, frenetisches Schreiben von Literaturbeleidigung_innen, Lesen von glitzernden Vampirgeschichten oder ähnlichem, Berichte aus dem letzten Urlaub – Mit der Schilderung der Geschehnisse eines einzigen Wagons der Strecke Berlin – Hamm (inklusive überirdischer Verspätungen ausgelöst durch schneeweiße Schneepracht) könnte der besessene Schreiberling schon ein beachtliches Werk schaffen, variabel mit existenzieller, nihilistischer oder auch epikureischer Ideologie durchsetzt. Dann die Flaschenpost in die literarische Welt werfen, vielleicht auf einen Urknall im Kopf der Kritik hoffen, und der nächste Literaturnobelpreis hat einen zusätzlichen Kontestaten gefunden, bei gleichbleibender vakuumesker Leere im Briefbörschen. Aber ich schweife ab. Oder ist gerade das Abschweifen die Liebkosung meiner Tätigkeit? Bringt uns die abgeschwaschwiffene Kunst erst zur Silhouette des Humanen in der Kunst? Oder rede ich vollkommenen Blödsinn? Hat mich die Betrachtung menschlicher Unterhälften zum Wahnsinn getrieben, versuche ich einen Sinn herauszuzerren und zu vivisektieren, um aus der Zeit etwas Zeitweiliges zusammen zu setzen, um nicht vollkommen meiner Produktivität beraubt nach Feigenblättern zu grabschen? Bin ich zu sehr beeinflusst von dem sich vor mir erstreckenden, von Menschen verstellten Gang, im kalten Wohnzimmerlicht gehaltenen Abteil, auf dem jeder seine Sitzorgane mit Stoff und Weichheit liebkosen darf, während ich die kalte Nassheit, die absolute Tautologie der Unbequemlichkeit, an meinen alabastergleichen Pobacken zu spüren habe? Was für ein Frevel! Und das alles nur, aufgrund meiner Hybris und dem Geiz. Die Zivilisation, nein, der Kapitalismus hat mich um mein Sitzfleisch gebracht! Mehr und mehr Sitzmöglichkeiten für weniger und weniger Menschen. Die Sitzakkumulation der Produktionsmittelbesitzer, der –innen und den Strichen ist ein rechtsstaatliches Vergehen! Wenn ich erst einmal Bundespräsident bin und vom System assimiliert, werde ich mich darum kümmern. Dafür stehe ich mit meinem Namen. Auf dem Papier. Aber was soll das Ganze? Hat es Zweck? Ich habe keinen Zweck hinzugefügt. Es ist Produkt einer gebeutelten Seele, einem Kampf gegen das Absurde, das Nichts, die Langeweile, die Lethargie und Kälte der ICE-Teppiche dieser Welt. Wenigstens ein Hoffnungsschimmer: Mit meinen Leidensgenossen verstehe ich mich. Geteilte Fahrt ist halbe Fahrt! Ahoi! Auf, auf in die weite, weiße, puderzuckerbedeckte wunderbar gleisverklebende Traumwelt des Fimbulwinters, des Jahrtausendwinters, von denen ich meinen Enkelkindeskindern noch Geschichten erzählen werde! Der Tag, an dem die Züge stillstanden. Vielleicht auch eine Revolution der Züge? Tritt das gebeutelte Transportproletariat nun auf und fordert Amnestie? Ich sollte aufhören. Wirklich, aufhören. Sonst ergeht es mir noch wie Herrn B., und ich werde niemals ohne Nervenkrankheit zu riskieren wieder auf Teppichen zu sitzen vermögen. Beenden wir dieses Schauerspiel. Fin. 

Freitag, 3. Dezember 2010

Arsen zum Mitnehmen

Carl hatte Recht. Astronomie ist in der Tat eine "character-building experience". Die Entdeckung von Lebewesen, die ganz ungeniert und unbeeindruckt von den uns bekannten Formalien des Lebens Arsen für ihre eigene Biomasse verwenden können, zeigt wieder einmal, wie großartig die Wissenschaft doch ist. Hier gibt es urplötzlich Leben, welches sich selbst aus Arsen konstituiert, einem Stoff mit den sympathisch chemischen Gefahrenzeichen "Giftig" und "Umweltgefährlich".. Biologie-Bücher müssen neu geschrieben werden! Unser bisheriges Verständnis von "Leben" wurde erweitert! Und es fühlt sich so gut an.

Diese Erkenntnis erhöht die Wahrscheinlichkeit von extraterristischen Leben ganz ungemein. Nicht, weil überall im Kosmos Arsen herumfliegt - sondern weil es erneut demonstrierte, dass unsere eigenen Erklärungsversuche noch längst nicht die Gesamtheit der Welt abzubilden vermögen. In einer Welt ohne für den Menschen fassbare Wahrheit wird es immer wieder neue Erkenntnisse geben, und wir laufen schlussendlich nicht weg vor der ultimativen Zertrümmerung unserer Paradigmen, nein, wir umarmen sie, wir liebkosen sie, wir lassen sie in unser Leben hinein, akzeptieren ihre Existenz. Solche Erkenntnisse sind nur Tropfen in einem Ozean, in dem ein kleines Körnchen namens Erde herumschwirrt - Ein unbedeutenes, kleines, fahl-blaues Körnchen, in einem Sonnenstrahl schwebend, aber trotzdem so komplex, so wunderschön-zerbrechlich. Wenn das, was wir Leben nennen, auf diesem kleinen Körnchen bereits so viele differenzierte, einzigartige solche Formen annimmt, was lauert dann erst hinter der schützenden Sauerstoffsphäre auf unsere Nachkommen?

Und nebenbei nimmt es uns einen Teil dieser fürchterlichen Einsamkeit. Je höher die Wahrscheinlichkeit für Leben außerhalb der Erde wird, desto eher sind wir nicht mehr alleine. Ich glaube, alleine dieser Gedanke nimmt der Dunkelheit, in deren Tiefe die Erde schwebt, einen großen Teil ihres Schreckens. Irgendwie sind wir nur animierter Kohlenstoff, haarlose Affen, die die Welt um sich herum wahrnehmen, mit ihr spielen und sie ausprobieren - Der Gedanke, dass es auch anderswo so sein könnte, ist fürchterlich beruhigend. Dafür liebe ich die Wissenschaft. Durch sie können wir die uns umgebene Welt, und ultimativ uns selbst, in neuem Licht sehen. Und das ist ziemlich großartig. Danke, NASA!

-> Hier der Stein des Anstoßes:
http://www.nasa.gov/topics/universe/features/astrobiology_toxic_chemical.html